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Hochseilgarten gegen Computersucht – Der Kick außerhalb der virtuellen Welt

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© lassedesignen – Fotolia.com

Klettern im Hochseilgarten, in schwindelerregender Höhe über Seile balancieren. Das ist in der Schön Klinik Bad Bramstedt therapeutische Realität für Patienten mit pathologischem Computer-Gebrauch.

Das KLETTERGARTEN MAGAZIN hat nachgehakt und führte Interviews mit Frau Astrid Reining (Presseteam) der Schön Klinik Bad Bramstedt sowie mit Dr. Tim Aalderink, leitender Psychologe.

Ein Element ihrer multimodalen Therapie besteht im Klettern im Hochseilgarten. Warum? Was passiert da?
Astrid Reining: Das Therapie-Element „Hochseilgarten“ ist in unserem Therapiekonzept noch recht jung. Doch machen wir sehr gute Erfahrungen damit. Wenn jemand 36 Stunden vor einem Ego-Shooter-Spiel sitzt, dann kann man ihn nicht unbedingt mit Malen locken. Im Hochseilgarten erfahren die Betroffenen eine adäquate Stimulanz. Sie erleben, dass es einen „Kick“ auch im realen Leben gibt und nicht nur in der virtuellen Welt.

Durch das Erleben von Grenzerfahrungen sollen die computersüchtigen Patienten also wieder intensive Momente und Stimulanz erleben, die nicht virtuell sind?
Astrid Reining: Positive Erlebnisse in extremen beziehungsweise sehr reizintensiven Situationen in der realen Welt unterstützen die Behandlung der Betroffenen. Das zeigen die Erfahrungen und deshalb zählen therapeutisch begleitete Klettertouren in einem Hochseilgarten in unserer Klinik zum Therapieplan bei computersüchtigen Patienten.

Mangelt es den „Second-Life-Junkies“ denn an positiven Erlebnissen in der realen Welt?
Astrid Reining: Computersucht kann als Symptom, als eine Art Flucht aus der realen Welt verstanden werden. Meist entsteht eine Computer-Abhängigkeit aus Schwierigkeiten im alltäglichen  persönlichen Umfeld  heraus.  Auch  psychische  Probleme  können zugrunde  liegen  (wie  Depressionen,  soziale  Ängste,  vermindertes Selbstwertgefühl). Wenn Betroffene keine alternativen Lösungsstrategien für diese  Art von Problemen entwickeln können und zugleich eine besondere Vorliebe für Onlineaktivitäten haben, besteht die Gefahr, dass sie sich immer weiter in die virtuelle Welt flüchten.

Zum Thema reizintensive Situationen im realen Leben. Sie haben in diesem Zusammenhang auch Rennfahrten auf der Kart-Bahn im Therapieplan durchgeführt. Ist dieses ebenso therapeutisch wirksam wie das Klettern im Hochseilgarten?
Astrid Reining: Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass gerade das Klettern deutliche therapeutische Effekte aufweist. Hier kommen viele Aspekte zusammen: die Überwindung, das Sich-verlassen auf Andere, die Stärkung des Selbstvertrauens usw.  und ebenso soziale Aspekte: Die Therapiegruppe geht gemeinsam in den Hochseilgarten, spricht miteinander, tauscht sich aus, erlebt miteinander.

Klettern Sie eigentlich selbst auch?
Oh nein. Ich stand am Boden und habe zugeschaut. Aber irgendwann werde ich auch mich einmal trauen.

Viele Kids sitzen täglich stundenlang vor dem PC. Können Sie den Eltern einen Ratschlag geben?
Nein. Das übersteigt meine Kompetenzen. Ich bin Expertin im Presse- und Marketingteam.

Immer wieder taucht das Thema Computerspiele in den Medien auf. Sind Computerspiele böse und die Ursache für das Problem Computersucht?
Astrid Reining: Computerspiele an sich sind nicht böse. Nein. Den Patienten fehlt es oft eher an Kompetenzen, im Alltag klarzukommen. Computersucht ist in diesem Sinne wie ein Symptom zu verstehen. Die gleichen Menschen gab es auch schon vor 50 Jahren. Nur gab es da noch keinen PC und die Symptome haben sich dann auf andere Weise ausgedrückt.
[Anmerkung des Autors: Nun rätselten und spekulierten wir in diesem Interview gemeinsam, wie sich das damals wohl ausgedrückt hat :-) ]

 

Interview mit Dr. Tim Aalderink (leitender Psychologe der Schön Klinik Bad Bramstedt)

Herr Aalderink, wie kann ich mir den Besuch mit den Patienten vorstellen? Gehen die Therapeuten etwa mit hoch?

Die Therapiegruppe geht in 2er-Teams in die hohen Elemente des Hochseilgartens. Zwei Therapeuten sind jeweils vor Ort. Doch die Durchführung geschieht durch das Personal des Seilgartens. Wir Therapeuten bereiten dieses Erlebnis mit den Patienten vor und nach.
Und ja: Ich war auch schon mit oben.

Worin besteht der besondere Wert für die Therapie? Geht es um den Kick, sozusagen um die Erfahrung, auch in der realen Welt “Highlights” erleben zu können?
Für eine Gruppe unserer Patienten mag dieses ein Aspekt sein. Ja. Durch das Erleben von Grenzerfahrungen können die eingefleischten Spieler wieder intensive Momente erleben, die nicht virtuell sind.
Ein zweiter Aspekt besteht darin, dass computersüchtige Patienten überhaupt positive Erlebnisse in der realen Welt erfahren – ebenso reale positive Kontakte zu Anderen erleben. Ziel kann es zum Beispiel sein, den durch das jahrelange Spiel am Computer extrem isolierten Computerspielsüchtigen wieder minimale Sozialkompetenzen beizubringen und ihnen zu zeigen, wie sie Befriedigung im wahren Leben finden.

Oder das Selbstwertgefühl zu stärken?
Dieses zum Beispiel kann auch ein Aspekt sein. Der Besuch im Hochseilgarten berührt viele Aspekte.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Unsere Erfahrungen waren überaus positiv. Wir werden den Aspekt “Hochseilgarten” in Zukunft weiter ausbauen – vielleicht sogar für andere Patientengruppen. Denn Psychotherapie geht auch mit ERLEBEN einher und nicht allein über Gespräche. Das ist ganz wichtig für eine nachhaltige Veränderung.

Die Klinik Wollmarshöhe am Bodensee setzt seit Jahren auf “Hochseilgarten” als eine Therapieform, als Medium für Erfahrungslernen. Darüber gibt es auch Studien von Dr. Kilian Mehl. War dieses ihr Vorbild oder Anlass, Klettergärten in ihre Therapie mit einzubauen?
Nein. Den Anstoß gab uns eine Klinik in Amsterdam: das “Smith & Jones Center” -  Europas erste Klinik für Computerspielsüchtige. Die Erfahrungsberichte von dort sind überaus positiv. Das Team dort setzt bei dem Entzugsprogramm unter anderem auch auf das Erleben von Extremsituationen. Neben Erlebnistouren in die Wildnis werden auch Aktivitäten wie Extremsportarten, zum Beispiel Skydiving oder Paintball, angeboten.

Viele Kids sitzen gerne und viel vor dem PC. Haben Sie einen Ratschlag für uns Eltern?
Ja. Eltern sollten hingucken, sich interessieren. Als Eltern unterstützen Sie Ihr Kind, indem Sie sich dafür interessieren, was es am PC spielt oder macht. Teilnehmen, dran-sein ist wichtig und so sinkt die Gefahr einer Computersucht.

Andersherum steigt also die Gefahr, wenn ich mein Kind – salopp gesagt – ins Zimmer setze, es spielen lasse und ich mich nicht damit befasse, was es dort am PC treibt – um meine Ruhe zu haben?
Tendenziell steigt dann die Gefahr. Indessen muss man auch sehen, dass dieser Reiz am PC bei jungen Menschen in bestimmten Lebensphasen kommt und auch wieder geht. Das ist normal.

Herr AalderinK. Ich habe durch die Recherche zu diesem Thema verstanden, dass Computersucht ein Symptom ist und nicht der Computer die Ursache für diese Krankheit ist. Den individuellen Hintergrund einer Entwicklung hin zur Internet-/ Computer-Sucht bilden zumeist Schwierigkeiten im alltäglichen persönlichen Umfeld oder auch psychische Probleme. Was haben “solche Menschen” eigentlich vor 50 Jahren gemacht?
Wenn Sie ein Schiffbrüchiger auf dem Ozean sind, dann nehmen Sie alles, was irgend hilft. Dass könnte Alkohol sein, der soziale Rückzug als Einsiedler … andere Fluchtmöglichkeiten vor der realen Welt.
Der Computer bietet sich als Fluchtmöglichkeit besonders an – mehr noch als der Fernseher. Am PC kann man interagieren, sich Bestätigung holen und persönliche Defizite kompensieren.

 

 

Video zu: Studie zur Internetsucht

Hintergrundwissen und persönlicher Erklärungsansatz des Autors:

Die „reale Welt“ wird von Computersüchtigen zunehmend mit belastenden Gefühlen – verbunden wie Einsamkeit, Angst, Depressivität oder dem Gefühl, den Ansprüchen nicht gerecht werden zu können – erlebt. Im  Gegenzug erleben die Betroffenen in der „virtuellen  Welt“ positive Gefühle von Erfolg, Selbstbestätigung, Anerkennung und eine allgemeine emotionale Stimulierung.

Der Besuch in einem Hochseilgarten wirkt dem entgegen. Es geht um Erfahrungslernen und vor allem erlebnispädagogische Arbeit im Hochseilgarten, hier vor allem die klassischen Tope-Rope-Seilgärten), sind wirksam.

“Erlebnisse sind Bewusstseinsvorgänge, in denen der Mensch tief innerlich und ganzheitlich von der Sinn- und Wertfülle eines Gegenstandes ergriffen wird.” (Zitat: Wikipedia).  Erlebnisse sind hier nicht der Maßstab, sondern die Ausgangssituation und das Medium für ein bewusstes Lernen und für verhaltensändernde, erzieherische oder persönlichkeitsentwickelnde Ziele:

•    Soziale Kompetenz durch Förderung der Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit.

•    Persönlichkeitsentwicklung durch Förderung der Selbstwahrnehmung und Reflexionsfähigkeit, Klärung von Zielen und Bedürfnissen, Entwicklung von Eigeninitiative, Spontanität sowie Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

•    Stärkung der Handlungskompetenz durch ganzheitliche Lernprozesse und Entwicklung von Kreativität (Einbezug von Psychomotorik, Emotionen und kognitiven Verarbeitungsprozessen) sowie psychomotorische Entwicklung (besonders für Kinder), Verantwortung für sich und Andere übernehmen.

FAKTEN:

 

  • Rund 560.000 Menschen in Deutschland gelten als internetabhängig. Etwa die Hälfte davon sei zwischen 14 und 24 Jahren alt. Das geht aus der ersten bundesweiten repräsentativen Studie zur Internetabhängigkeit hervor, die die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, Anfang Oktober in Berlin vorstellte. Bei weiteren 2,5 Millionen Menschen zwischen 14 und 64 Jahren sei die Nutzung von Online-Spielen und sozialen Netzwerken zumindest problematisch.
  • Die Schön Klinik Bad Bramstedt ist auf die Behandlung der Internet-Sucht, Computer-Sucht spezialisiert und hat vor etwa einem Jahr den stationären Behandlungsschwerpunkt “Pathologischer Computer-Gebrauch” etabliert. Mit dem stationären Behandlungsangebot “Pathologischer Computer-Gebrauch” richtet sich die Schön Klinik Bad Bramstedt explizit an Erwachsene.

 

LINKS ZUM ARTIKEL:

Schön Klinik: Internet-Sucht. Computersucht – Informationen zur Krankheit

Flucht vor Schwierigkeiten im Alltag oder psychischen Problemen: In Computerspielen finden Betroffene Anerkennung.

 

Presseinformation der Schön Klinik vom 10.August 2012 “Computersucht ist keine Spielerei” (anlässlich der GAMESCO)

 

 

Studie zur Internetabhängigkeit -Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 

 

 

sternTV: Computersucht “Gefangen im Netz” – Infos zur Sendung vom 24.10.2012

 

Hochseilgarten Kaltenkirchen der Halimos AG

 

WEITERFÜHRENDE LINKS ZUM THEMA “INTERNET- /COMPUTERSUCHT”:

Artikel von Andreas Dudda [Herausgeber des KLETTERGARTEN MAGAZINs]

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